Ein wichtiges, aber auch erschütterndes Buch
Autor: Bart van Es
Titel: Das Mädchen mit dem Poesiealbum
Original Titel: The Cut out Girl
Übersetzer/in: Silvia Morawetz / Theresia Übelhör
Verlag: DuMont Buchverlag
Herkunft des Buches: Rezensionsexemplar des DuMont Verlages
Format: Gebundene Ausgabe
ISBN: 9783832198565
Seiten: 320
Veröffentlichungsdatum: 19.03.2019
Preis: 22,00€
Klappentext:
DIE VERBORGENE GESCHICHTE EINER FAMILIE
Viele Familien haben ein Geheimnis. Doch nur wenige ein solches wie die von Bart van Es.
1942 versteckten seine Großeltern, einfache Arbeiter aus Dordrecht, das ihnen völlig unbekannte jüdische Mädchen Lien vor den Nazis. Achtjährig war es von seinen Eltern von Den Haag aus zu den van Es geschickt worden, mit seinem Poesiealbum und einem Brief seiner Mutter an die Pflegeeltern in der Tasche. Doch schon einige Monate später musste Lien die Familie, die sie schnell lieb gewonnen hatte, verlassen und in ein sichereres Versteck auf dem Land weiterziehen, wo es ihr nicht gut erging. 1945 kehrte sie zu den van Es zurück und wurde von ihnen adoptiert.
Doch Bart kannte Liens Geschichte nicht – wie konnte das sein, wo sie doch gemeinsam mit seinem Vater und dessen Geschwistern aufgewachsen war? Warum hatte seine Großmutter den Kontakt zu ihr abgebrochen?
Bart van Es lüftet das Geheimnis seiner Familie und schlägt damit ein wichtiges Kapitel der niederländisch-deutschen Geschichte auf. Er lernt Lien de Jong kennen, die heute in Amsterdam lebt. Sie erzählt ihm die Geschichte ihres Lebens, die zu Barts Erstaunen auch seine eigenen Lebensfragen berührt.
Leseprobe: auf der Verlagsseite
Link zur Verlagsseite: Das Mädchen mit dem Poesiealbum beim DuMont Verlag
Bewertung: 5 Sterne
Rezension
Achtung: Triggerwarnung: NS-Zeit, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch
1942: Lien ist 8 Jahre alt, als sie von ihrer Familie aus Den Haag weggeschickt wird. Liens Eltern sind Juden und versuchen auf diese Art und Weise ihre Tochter zu retten. Ein Widerstandsnetzwerk bringt sie in Sicherheit. Zunächst wechselt sie relativ schnell die Orte, immer wieder entkommt sie nur relativ knapp. Am bedeutendsten für sie persönlich war ihr Aufenthalt bei der Familie van Es. Das Mädchen fühlt sich hier sehr wohl, doch als ihr Versteck droht aufzufliegen, muss sie wieder woanders hin. Sie wechselt noch oft den Ort, doch an einem ist es am schlimmsten. Dort muss sie hart arbeiten und wird vom „Onkel“ vergewaltigt. Sie muss, wenn man so will, zwischen Vergewaltigung und dem sicheren Tod wählen. Eine schreckliche und kranke Entscheidung, noch dazu sagt ihr der „Onkel“ immerzu sie habe es „selbst gewollt“.
Im Verlauf des Jahres 1945 kann Lien endlich diesen Ort des Grauens hinter sich lassen und zu den van Es zurückkehren, die sie adoptieren. Ihre eigene Familie wurde in Auschwitz ermordet.
Doch damit ist Liens Geschichte nicht, wie man denken könnte vorbei.
Dieses Buch ist in mehrerlei Hinsicht eine Biographie. Es erzählt die Geschichte eines Mädchens, dass in der NS-Zeit in mehr als einer Art und Weise die Hölle durchgemacht hat und die Geschichte einer Familie. Bart van Es wusste bis 2014 nicht, was Lien de Jong damals hat durchmachen müssen, warum sie zwar von seiner Familie adoptiert worden war, aber seine Großmutter den Kontakt zu ihr in den 1980er Jahren abgebrochen hatte, wodurch Bart sie erst 2014 kennenlernte.
Es handelt sich hierbei nicht um einfach „noch eine Biographie aus der NS-Zeit“, wie vielleicht manch einer denken mag. Es ist nicht eine Geschichte, wie man sie schon unzählige Male gelesen hat. Diese Geschichte ist ganz anders. Sie ist außergewöhnlich, tragisch, schrecklich und beleuchtet ein Kapitel der Geschichte, dass bis heute noch nie thematisiert wurde.
Liens Leben wird über 1945 hinaus erzählt. Wie sie versuchte, ein normales Mädchen zu sein, das Trauma aber nicht abschütteln kann, wie sie eine junge Frau wurde, später heiratete und über allem der Schatten ihrer Vergangenheit lauerte. Die Handlung umfasst natürlich mit Unterbrechungen die Jahre 1941-2017. Immer wieder im Wechsel zwischen Liens Geschichte und Barts Treffen mit ihr in der Gegenwart, seinen eigenen Nachforschungen und Hintergrund Informationen über die jüdische Geschichte in den Niederlanden und der Verfolgung und Vernichtung der dortigen Juden. Allein schon bei den Zahlen, die Bart van Es nennt, wird einem übel: 80% der Niederländischen Juden wurden während der Besatzungszeit ermordet, prozentual gesehen mehr als in jedem anderen westeuropäischen Land, mehr sogar, als in Deutschland. Gleichzeitig ist es aber auch faszinierend die kleinen Anekdoten über Widerstandskämpfer zu lesen, die ihr eigenes Leben riskierten, um andere zu retten.
Bart van Es ist ehrlich, er färbt die Rolle seiner Familie nicht schön und versucht nicht sie als makellose Helden darzustellen. An einer Stelle, schreibt er zum Beispiel explizit, dass er nicht weiß, was damals geschah, er aber die Geschichte aus der Sicht von Lien erzählt, also hier ihrer Sichtweise folgt.
Die Gestaltung des Buches gefällt mir sehr. Auf dem Cover ist Lien zu sehen, die Rückseite ist wie eine Seite ihres Poesiealbums verziert. Nimmt man den Schutzumschlag ab kommt ein strahlend weißes Buch zum Vorschein und wenn man die Geschichte im Hinterkopf behält, die dieses Buch enthält ist das irgendwie krank und passend zugleich. Unschuldiges weiß für die Geschichte eines Mädchens, dass in mehr als einer Hinsicht zum Opfer gemacht wurde.
Fazit: Es ist wahrlich kein leichtes Buch. Liens Geschichte ist schrecklich, tragisch, faszinierend und vor allem: wichtig! Gerade in unserer heutigen Zeit, in der es Menschen gibt, die behaupten, das Vergangene sei vergangen und sollte auch nicht mehr „aufgewärmt“ werden oder noch schlimmer der Holocaust verharmlost wird und auf Social Media Seiten Sätze zu finden sind, in denen das Vokabular der damaligen Zeit eingesetzt wird auf die aller widerlichste Art und Weise, gerade jetzt sollten wir uns alle vor Augen führen, dass das, was damals geschah nicht einfach vergessen werden darf, nur weil immer mehr Zeitzeugen versterben. Dieses Buch zeigt, dass es auch nicht nur Deutsche Geschichte ist, die davon berührt ist, sondern ebenso auch die der Nachbarländer, wie hier der Niederlanden.
Dieses Buch ist kein locker flockiger Roman, sondern ein Tatsachenbericht in einen angenehmen Schreibstil gekleidet aber trotzdem nicht weniger erschreckend und nicht weniger wahr. Ich hoffe ich kann durch diese Rezension den ein oder anderen dazu bewegen dieses kleine Stück vergessene Geschichte zu lesen und gegen das Vergessen anzukämpfen.
Hesseline de Jong, wie Line mit vollem Namen heißt, hat meinen vollsten Respekt und meine Bewunderung dafür, dass sie Bart van Es gestattet hat, ihre Geschichte für die Nachwelt aufzuschreiben. Ihm zolle ich ebenfalls Respekt dafür, dass er eben nicht den leichten Weg bei diesem Buch gegangen ist, sondern bewusst niemanden geschont hat.